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Schein vs. Realität
Die Post der Verschickungskinder

Schein vs. Realität

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Verschickungskinder – Schein vs. Realität

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Die Kinder und Jugendlichen sollten sich bei gutem Essen und frischer Luft erholen. Dafür wurden die sogenannten Verschickungskinder zwischen 1948 und Anfang der 1980er-Jahre ohne ihre Familie in Kurheime geschickt. Sie sollten aufgepäppelt werden und wieder zu Kräften kommen. Doch viele dieser Kinder durchlebten dort einen Albtraum, der einige davon noch heute verfolgt.

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Thematik Verschickungskinder

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Jugendämter und Schulärzte verschrieben den Kindern zumeist ohne nachvollziehbare medizinische Begründung eine Kur. Sechs bis acht Wochen sollten sie dort verbringen – teilweise auch länger. Finanziert wurde dies durch Kranken- oder Rentenversicherungen. Das Ziel der Kinderkur war es, die Gesundheit der Kinder zu verbessern. In den Regierungsdokumenten von damals hieß es, dass man die Kinder in ihrer „Not verstehen“, „ihnen Lebensmut geben“ und mit „einer besonderen Liebe“ begegnen will. Doch der Schein trog. In der Realität erfuhren die Kinder oft das Gegenteil. Als Kurerfolg galt in den meisten Fällen lediglich die Gewichtszunahme. In den Kurheimen galten strenge Regeln. Essenszwang, Toilettenverbot, Redeverbot beim Essen oder das Verbot zum Weinen sind nur ein paar Beispiele dafür. Wurde eine dieser Regeln nicht beachtet, mussten die Kinder teilweise schwere körperliche Strafen, Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Immer wieder ist auch von Misshandlungen die Rede. Dabei hatten die Kinder einfach unheimlich Angst und fühlten sich alleine. Sie waren der Situation ausgeliefert. Sechs Wochen Kontaktverbot mit den Eltern. Nur das Schreiben von Briefe und Postkarten war erlaubt – Heute unvorstellbar. Für die Kinder war dies eine gefühlte Ewigkeit, sie konnten gar nicht abschätzen wie lange sechs Wochen wirklich sind.

„Den Eltern wurde vorgegaukelt, dass es einem gut geht.“ Sie sollten nichts von den Umständen wissen. So wurde den meisten Kindern damals auch nicht geglaubt und Misshandlungen sowie andere Missstände wurden jahrzehntelang ignoriert. Dabei leiden einige noch heute an psychischen Problemen wie Angststörungen, Schuldgefühlen oder Platzangst.

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Quellen 1

Neumann, U. (2019a). REPORT MAINZ: Erniedrigung statt Erholung – Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden (Teil 1). Das Erste. Abruf am 01.07.2021 von
https://www.swr.de/report/erniedrigung-statt-erholung-wie-kinder-in-kurheimen-gequaelt-und-traumatisiert-wurden/-/id=233454/did=24601462/nid=233454/6q0wyx/index.html

Neumann, U. (2019b).
REPORT MAINZ: Erniedrigung statt Erholung – Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden (Teil 2). Das Erste. Abruf am 01.07.2021 von
https://www.swr.de/report/erniedrigung-statt-erholung-wie-kinder-in-kurheimen-gequaelt-und-traumatisiert-wurden/text-des-beitrags-erniedrigung-statt-erholung/-/id=233454/did=24601462/mpdid=24772866/nid=233454/1bm1c6g/index.html.

nexus – Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung (2020).
Heimstatistiken Verschickungsheime jetzt online. Abruf am 01.07.2021 von
https://nexusinstitut.de/heimstatistiken-verschickungsheime-jetzt-online/.

Röhl, A. (2021).
Das Elend der Verschickungskinder: Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Röhl, A. (2021).
Die Initiative Verschickungskinder– aktuelle Situation und Handlungsbedarf. Abruf am 01.07.2021 von
https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2021/06/MMST17-3975.pdf.

Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V. (2020a).
Heimstatistiken. Verschickungsheim – Das vergessene Trauma. Abruf am 02.07.2021 von
https://verschickungsheime.de/heimstatistiken/.

Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V. (o.D.).
Verschickung-Definition – Verschickung in Kinderkur- und -Erholungsheime. Verschickungsheim – Das vergessene Trauma. Abruf am 01.07.2021 von
https://verschickungsheime.de/verschickung-definition/.

Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V. (2020b).
Verschickungen (von 1950-1990) ein Trauma bis heute?.  Verschickungsheim – Das vergessene Trauma. Abruf am 02.07.2021 von
https://verschickungsheime.de/verschickungen-von-50-90-ein-trauma-bis-heute/.

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Geschichte 1

Es ist 1973. Mit gerade einmal sieben Jahren wurde Lisa (Name geändert) für sechs Wochen in das Kurheim DAK Haus Hamburg in Bad Sassendorf geschickt. Alleine.

Der Arzt hatte ihr für ihre Wachstumsschmerzen in den Beinen und das Untergewicht die Kur verschrieben und dort war sie dann auch – sechs Wochen lang. Trotz der Vorbereitungen durch Lisas Mutter waren die Aktivitäten in der Kur seltsam – die Solebäder, das Spazieren und vor allem, dass trotz sechs Wochen ohne Schule wenig Zeit zum Spielen übrig blieb. Mit sieben Jahren so weit weg von zu Hause. Lisa wurde von ständigem Heimweh geplagt. Die Stütze für das kleine Mädchen waren die Briefe der Familie. Einmal pro Woche durfte sie einen Brief oder eine Postkarte nach Hause schicken – zu ihrem Glück bekommt sie von ihrer Familie und ihren Freunden eine Menge Briefe zurück. Denn auch Lisas Mama weiß aus erster Hand, wie befremdlich sich ein Kuraufenthalt anfühlen kann. Die Briefe waren ihr Versuch, das Heimweh der kleinen Lisa aus der Ferne ein Stück besser zu machen. Pakete und Besuche bleiben dem jungen Mädchen verwehrt. Die Briefe der Familie halfen Lisa ein Gefühl für Zeit zu behalten und sich trotz aller Umstände im Kurheim einzuleben.
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Das Briefeschreiben gehörte zum Pflichtprogramm.
Jede Woche am selben Tag.
Briefe wurden gegengelesen.
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Meiner Mutter war ein reger Briefwechsel sehr wichtig.


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Das erscheint mir heute komisch.
Wie hätte ich so schnell eine Freundin finden sollen?
(Von meinem schrecklichen Heimweh erzählte ich nichts.
Ich wollte meine Mutter nicht traurig machen.)

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Meine Mutter bat die Familie
und Bekannte, mir zu schreiben.
Auch meine Schwester schrieb mir.


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Die Heimleiterin schlug vor, von
unserem Tagesablauf zu erzählen.
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Meine Mutter wurde selbst als Kind verschickt.

Sie hatte mich bereits vor der Kur auf das Solebaden und Inhalieren vorbereitet, um mir die Angst davor zu nehmen.
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Spaziergänge gingen stets durch Felder,
weit entfernt von Häusern oder anderem.
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Die Briefe gaben mir ein Zeitgefühl
und halfen gegen das Heimweh.



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Ich freute mich sehr darauf,
wieder nach Hause zu dürfen.
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Ich wusste, auch meiner Mutter fiel es schwer,
solange von mir getrennt zu sein.


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Vieles davon wurde beschönigt.
Das Essen war nicht lecker. Nur einmal in den sechs Wochen verlangte ich Nachschub.
Beim Spielen stand ich oft abseits und schaute nur zu.

Dennoch habe ich die Kur gut überstanden.


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Briefe und Postkarten waren der einzige Kontakt nach Hause. Keine Anrufe, kein WhatsApp.
Heute ist das unvorstellbar.
Man sollte sich bewusst werden, was es bedeutet,
als Kind so lange von den Eltern getrennt zu sein.


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Wenn sich Lisa heute vorstellt, sie hätte damals nicht die Briefe ihrer Liebsten gehabt, kommen bei ihr Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit auf. Die Briefe waren ihr Anker. Sie gaben ihr ein Gefühl von Zeit und Hoffnung – aber vor allem waren sie ihre Möglichkeit, die Verbindung zu den Eltern über die Entfernung trotzdem noch zu spüren. Sie gaben ihr Sicherheit – ja hier ist noch jemand. Jemand, der mich gern hat und jemand, der sich genauso wie ich freut, wenn ich wieder nach Hause komme.
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Geschichte 2

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Wenn Stefanie die Briefe von damals heute durchliest, muss sie mit Tränen kämpfen. Mit 10 Jahren. So weit weg. Der einzige Beweis, dass es die Welt da draußen noch gibt, waren Briefe aus der Heimat. „Briefe, die nichts aussagten“. Auch in den selbst geschriebenen Briefen erkennt sich Stefanie kaum wieder. „"Liebe Eltern", das hätte ich nie geschrieben“. 10 Jahre alt – einfach zurückgelassen. Stefanies Briefe zeigen die verzweifelten Versuche eines Kindes, Mama und Papa mitzuteilen, wie es ihr wirklich geht. Gebrochene Herzen, unterstrichene Worte – Kurheim. Doch nichts davon wurde erkannt. Gedanken von geheimen Briefen und Botschaften in den Umschlägen blieben genau das – Gedanken. Denn die Briefe durfte Stefanie nicht selbst verschließen und die Angst vor Konsequenzen war zu groß.
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1982 wurde Stefanie für zehn Wochen ins Kurheim geschickt. Die Briefe und Postkarten, die sie damals an ihre Freunde und Familie geschickt hatte, waren voller leerer Floskeln und zensierter Aussagen. Heute erinnert sich Stefanie an die Zeit damals zurück und schreibt ihre Geschichte neu – endlich kann sie sagen, was sie sich damals wirklich dachte.


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„Liebe Mama und lieber Papa,

heute schreibe ich Euch wieder mal aus dem Kurheim. Hier ist alles anders als zu Hause. Das Essen schmeckt komisch, überhaupt nicht wie zu Hause und die Leute sprechen ganz seltsam. Ich verstehe sie oft nicht. Es sieht auch alles anders aus, die Häuser, die Straßen, die Landschaft, das habe ich schon auf der Fahrt hierher bemerkt. Das Kurheim, ein großes Haus von außen weiß gestrichen, aber innen sehr dunkel. Vor allem die Flure und das Treppenhaus, das zu den Schlafräumen führt. Überall knarzt der Boden, wenn man darüber geht. Herumrennen oder toben dürfen wir nicht. Es ist alles so groß und ich fühle mich ganz klein. Eigentlich sollten hier 30 Kinder sein, aber weil das Heim bald geschlossen wird, sind wir nur sehr wenige. Das macht das Ganze noch unheimlicher.

Ich fühle mich hier sehr fremd und auch wenn manche „Tanten“ sich gelegentlich bemühen, nett zu sein, zum Beispiel Frau Rabe, habe ich doch immer ein bisschen Furcht vor ihnen. Am meisten Angst habe ich vor Frau Rauch, das ist die Heimleiterin, sie ist sehr streng und ich habe in ihrer Anwesenheit immer das Gefühl, das ich alles falsch mache und bin ständig auf der Hut.Alle Erwachsenen hier sind ganz alt, ich glaube mindestens 70! Frau Rauch und Frau Rabe und Herr Richter, er ist wohl so eine Art Helfer für alles. Die Köchin ist etwas jünger, aber nicht besonders nett. Vor allem nicht, wenn man nicht aufisst. Wir müssen immer alles aufessen. Heute gab es Milchreis mit Zimt und Zucker, das habe ich noch nie gegessen. Bäh. Eklig. Es sah aus wie dicke Maden in Milchsoße und fühlt sich im Mund auch so an. Mir wurde übel, als ich das essen musste und ich musste mich konzentrieren, dass ich es nicht wieder ausspuckte oder würgte.

Das habe ich hier schon gelernt, dass ich alles runterschlucke, auch wenn ich keinen Hunger habe oder das Essen absolut nicht mag oder gar eklig finde. Denn sonst muss ich am Tisch sitzen bleiben, bis ich alles aufgegessen habe. Da sitzt man dann ganz alleine in dem großen Speisesaal. Am besten klappt es, wenn ich kleine Happen in den Mund stecke und sie schnell runterschlucke, ohne zu kauen. Dann schmeckt man am wenigsten und bekommt den Teller schneller leer.

Die Kinder sind natürlich nicht so alt, sondern ungefähr so alt wie ich. Aber wie gesagt, es sind nur wenige. Manchmal sind wir zwei oder drei, dann auch mal für kurze Zeit vier. Denise Günthner, Mario, Martin, Joachim. Wir Kinder verstehen uns meistens ganz gut, mit Denise habe ich mich etwas angefreundet. Aber selbst Denise kann ich mich nicht wirklich anvertrauen und ihr scheint es ähnlich zu gehen.

Ich bin hier ständig unter Beobachtung, man kann nicht alleine sein. Wir Kinder sind eigentlich nie unter uns. Immer ist eine Betreuerin dabei. An meinem Geburtstag durfte ich ja mit Euch telefonieren, aber auch da stand eine Betreuerin oder Frau Rauch daneben und ich konnte nicht sagen, was ich sagen wollte. Das hat mich sehr traurig und hilflos gemacht. Auch beim Briefeschreiben ist natürlich jemand dabei und liest die Briefe bevor sie verschickt werden. Diesen Brief schreibe ich nur in meinen Gedanken, denn die Angst, beim heimlichen Schreiben erwischt zu werden, ist einfach zu groß.

Mir fehlt die Freiheit von zu Hause, dass ich einfach herausgehen kann, alleine und mit Freunden unterwegs zu sein, in den Straßen, die ich kenne und in dem Nachbargarten Fahrrad fahren, schwimmen, Fußball oder Federball spielen. Hier gehen wir gemeinsam spazieren, so etwas Langweiliges. Manchmal gehen wir zur Rupertskapelle, manchmal ins Dorf oder einfach so in der Landschaft herum. Einmal haben wir eine kleine Schneeballschlacht gemacht, das war lustig und ich habe kurz vergessen, dass ich mich hier nicht wohlfühle. Es wurde ein Foto mit meinem Fotoapparat gemacht und dann war der Spaß auch schon wieder vorbei.

Alleine bin ich dann beim „Mittagsschlaf“, den wir zwangsweise machen müssen. Jeder alleine in seinem Zimmer. Dort liege ich dann wach herum und langweile mich zu Tode. Nicht mal lesen dürfen wir! Aus lauter Langeweile habe ich meine Lippen an die kalte Wand gepresst und Spucke auf die Wand laufen lassen. Dann habe ich beobachtet, wie sie langsam herunterläuft. Wenn es mehr Spucke war, lief es schneller und überholte manchmal einen langsamen Tropfen. Ich stellte mir vor, wie sich unter dem Bett ein ganzer See sammeln würde … Ein See aus Spucke, allerdings könnte er auch aus Tränen bestehen, denn Weinen tue ich oft am Abend. Ganz alleine in meinem Bett, meinem Zimmer.

Wir haben nachts unterschiedliche Schwestern, die aufpassen, dass wir ruhig sind. Alle bis auf eine sind sehr streng und haben mich ermahnt, als ich einmal etwas lauter geweint habe vor Heimweh. Seitdem weine ich so leise wie möglich. Nur eine der Schwestern, Schwester Angela, zeigt etwas Verständnis für mein Heimweh. Ich darf manchmal sogar zu ihr ins Zimmer kommen und mich kurz zu ihr setzen. Sie sagt mir dann nicht in kaltem Ton, dass ich gefälligst in mein Zimmer gehen soll und schlafen soll, sondern sie scheint mich zu verstehen, und ich finde sogar ein wenig Trost bei ihr. Aber immer darf ich das auch nicht.

Mama, Papa, Bestrafungen gibt es hier auch. Wenn man nicht gehorcht zum Beispiel, muss man die Mittagspause auf der Holzbank im Speisesaal verbringen. Das musste ich schon einmal. Die Mittagspause, die mir auch im bequemen Bett schon lang erschien, wurde so zu einer Ewigkeit. Überhaupt der Aufenthalt hier kommt mir vor wie das ganze Leben. Acht Wochen soll ich hierbleiben, wisst ihr, wie lang das ist? Ich bin gerade erst 10 Jahre alt! Es fühlt sich an, als würde ich nie wieder nach Hause kommen. Aber ich will hier nicht mehr bleiben!

Ich vermisse Euch so sehr, ich vermisse alles von zu Hause, sogar meine kleine Schwester! Und mein Zimmer, meine Freundinnen Ina, Insa, Oma und Opa, unseren Garten, die Schule. Und ich will da wieder hin, nach Hause, in die Schule, zu meinen Freunden, wo ich hingehöre!Warum kann ich nicht nach Hause? Ich will hier weg, will wieder zu Euch. Oder wollt ihr mich gar nicht mehr? Habe ich etwas falsch gemacht? Wollt ihr mich bestrafen, indem ihr mich hierher geschickt habt? Seid ihr froh, dass ich endlich weg bin? Ich will unbedingt zu Euch, ganz schnell. Könnt ihr mich nicht abholen? Bitte holt mich schnell ab! BITTE!

In großer Liebe,
Eure Stefanie“






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Sogar ihren Geburtstag musste Stefanie im Kurheim verbringen. Der einzige Tag, an dem sie die Stimmen ihrer Eltern über ein Telefon hören konnte – der Beweis, es gibt sie noch. Schön hat Stefanie ihren Geburtstag trotzdem nicht in Erinnerung. „Abgeschnitten von allem, was vertraut war“. Mama und Papa hatten der kleinen Stefanie sogar ein Paket zu ihrem Geburtstag geschickt. Dessen Inhalt durfte sie aber erst Tage später erkunden. Der Geburtstagswunsch der Betreuerinnen – „Nein, heute bekommst du es nicht!“
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Geschichte 3

Angelika – 10 Jahre alt aus Köln

Eigentlich hatte sich Angelika das ganz anders vorgestellt. Als der Arzt ihr von der Kur im Allgäu erzählte, entstanden in ihrem Kopf sofort Bilder vom „Spielen im Schnee“ und „frischer Bergluft“. Doch schon nach zwei Wochen im Kurheim flehte Angelika ihre Eltern an, sie abzuholen – zu ihrem Glück machten diese das auch.

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Die Inhalte der Karte

Anders als andere Verschickungskinder durfte Angelika auf die Karte schreiben, was sie wollte. So konnte sie ihre Mutter kontaktieren und vorzeitig abgeholt werden. Doch eines stellt sie auch klar – „sie wäre schwer zu überzeugen gewesen“, etwas anders zu schreiben.

Schreibzeiten

Auch in der kurzen Zeit kann sich Angelika erinnern, „mindestens einmal pro Woche“ an ihre Eltern schreiben zu müssen. Ob öfter erlaubt war, kann sie heute nicht mehr sagen.

Der Ort der Postkarten

Alle Kinder fanden sich also einmal in der Woche in dem Raum zusammen, den Angelika eigentlich von den Mahlzeiten kannte.

Die Karte als Hilferuf

Schon nach der ersten Woche war für Angelika klar – „hier ist es ganz anders, als sie sich das vorgestellt hatte“. Mit Nachdruck und Traurigkeit betonte sie in ihrer Postkarte, dass sie wieder von hier weg möchte.

Achtung Postkontrolle!

Dass die Post im Kurheim kontrolliert wurde, sprach sich bald herum. Schon mit 10 Jahren wusste Angelika, dass Briefe anderer Menschen zu lesen „eine Unverschämtheit“ ist.

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Eine Postkarte kommt bei Angelikas Mama zu Hause an und ein Satz sticht klar hervor – „Holt mich ab, sonst weine ich“. Wie für Angelika war auch für viele weitere Kinder der Postweg die einzige Möglichkeit, das Vertraute zu erreichen – sich zu vergewissern, dass die Welt, die sie zurückgelassen hatten, noch auf sie wartete. Denn im und um das Heim hatten die Kinder keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Völlig abgeschottet von allem Bekannten und Geliebten. In der heutigen Welt kann man innerhalb von Sekunden Nachrichten um die ganze Welt verschicken und seine Liebsten in der Tasche mit sich tragen. Damals gab es diese Option nicht – umso verständlicher, dass es für die Kinder in den Kurheimen nichts Wertvolleres gab, als den Beweis – die Welt, die ihnen so vertraut war, die gibt es noch.
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Geschichte 4

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Vier Jahre – Das Alter, in dem andere Kinder lernen, differenziertere Sprache zu verwenden. Doch Ute musste in diesem Alter neun Monate ins Haus Schönberg in Wyk auf Föhr. Zu diesem Zeitpunkt waren neun Monate für Ute das halbe Leben. Der Arzt hatte ihr wegen einer Tuberkuloseerkrankung empfohlen, in die Kur zu gehen. Ute war zu jung, um selbst Briefe zu schreiben oder die ihrer Eltern zu lesen – und so wurde sie neun Monate mit Gefühlen von Einsamkeit, Heimweh und viel Angst zurückgelassen. Gefühle, die Ute bis heute immer wieder einholen.
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Mit vier Jahren noch zu jung, um selbst zu lesen oder zu schreiben, hat Ute keine Möglichkeit, den Kontakt mit ihren Eltern während ihrer Zeit im Haus Schöneberg aufrechtzuerhalten. Das Vergessen der eigenen Eltern und das Gefühl, sich selbst zu vergessen, machen den Aufenthalt für Ute unausstehlich. Neun Monate werden für sie zu einer Unendlichkeit. So viele Gedanken eines Kindes, die nie ausgesprochen oder aufgeschrieben wurden. Heute spricht Ute offen über das damals Erlebte. Die Möglichkeit, Post an ihre Eltern zu schreiben, hat sie nachgeholt und ihre Gefühle von damals niedergeschrieben.
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Stell dir vor, du bist vier Jahre alt und hast alle Menschen, die dir lieb und vertraut sind, seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Du bist dir vielleicht gar nicht mehr sicher, ob deine Erinnerung an sie der Realität gleicht. So ging es Ute, als ihre Eltern sie im Kurheim besuchten. Endlich – Zuflucht, Hoffnung, ein Licht am Ende des nie enden wollenden Tunnels. Besuche der Eltern waren sehr selten und meist Ausnahmen. Einen Tag verbrachte Ute gemeinsam mit ihren Eltern. Doch als Ute auf Anweisung der Eltern in den oberen Stock des Heimes lief, um ihren Buddeleimer zu holen, machten sich ihre Eltern aus dem Staub. Keine letzte Umarmung oder aufmunternde Worte. Als Ute wieder unten ankam, wartete dort nichts außer dem Schmerz und der Verzweiflung – nach so langer Zeit – wieder zurückgelassen. Die Wände schienen immer näherzukommen und der Schmerz zwang Ute in die Knie. Ein Moment, den sie bis heute nicht vergessen kann.
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Geschichte 5

Wie so viele Kinder wurde auch Birgit mehr als einmal verschickt – insgesamt ganze fünfmal. Es waren ihre Asthma-anfälle in der Nacht, die den Kinderarzt alarmierten und auch auf seinen Rat wurde Birgit verschickt. Zwei unterschiedliche Heime hatte Birgit erlebt. Zum einen auf der Norderney, zum anderen in einem privaten Heim in Ühlingen im Schwarzwald. Der Unterschied zwischen den Heimen – „wie Tag und Nacht“. Insgesamt wurde Birgit zwischen 1965 und 1973 für 54 Wochen verschickt – mit 12 Jahren war sie also schon mehr als ein Jahr von ihren Lieben getrennt.
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An ihre ersten drei Aufenthalte erinnert sich Birgit nicht gern zurück. Den Eltern wurde verboten zu schreiben – damit das Heimweh nicht so schlimm ist. Doch als alle anderen Post aus der Heimat bekamen und die 3-jährige Birgit mit leeren Händen da stand, war das Heimweh fast unerträglich. Als Birgit noch zu jung fürs Schreiben war, übernahmen die Tanten das Schreiben der Briefe. Die Briefe, die dann bei den Eltern ankamen, waren voller nichts aussagender Floskeln – „Es regnet, wir spielen im Kreise. Die Sonne scheint, wir spielen am Strand.“ Bei ihrem dritten Aufenthalt im Heim war Birgit neun Jahre alt – endlich alt genug, um ihren Eltern zu schreiben. Bei diesem Aufenthalt kam Birgit in Kontakt mit einem Mädchen, das an Hepatitis erkrankt war. Alle Kinder, die mit ihr gespielt hatten, mussten in einem weiteren Haus isoliert werden. Ganz schön aufregend für ein 9-jähriges Mädchen. Doch als sie ihren Eltern in einem Brief von dem Vorfall berichtete und ihr Vater darauf hin im Heim anrief, wurde ihre Geschichte als Lüge abgetan. Hätte ihr Vater damals die Wahrheit gewusst, hätte er sie abgeholt – doch der Schein wurde gewahrt und Birgit musste weitere Wochen im Kurheim überstehen. Das wöchentliche Briefeschreiben fühlte sich danach mehr nach Zwang als nach Freude an und die Trauer übermannte Birgit dann erst recht.
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Um ihr die Angst vor dem Kurheim zu nehmen, schickte Birgits Vater ihr jede Woche einen Brief. Doch es war kein gewöhnlicher Brief – jeder Brief enthielt eine neue Zeichnung von Max und Moritz im Kurheim. Wenn Birgit mit dem Zug zum Kurheim gefahren ist, dann wartete dort schon ein Brief auf sie, in dem auch Max und Moritz gerade im Zug auf dem Weg ins Kurheim waren. Egal ob sie am Strand spielte oder erkältet im Bett lag – Max und Moritz machten das Gleiche durch wie sie. Die Bilder sind für die kleine Birgit im Heim ihr wertvollster Besitz – auch heute sagt sie dazu: „Die hebe ich auch auf, das ist mein Schatz“.
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Viele Jahrzehnte sind nun vergangen, seitdem Birgit das letzte Mal im Kurheim war. Doch erst vor drei Jahren schafft sie es, mit ihren Eltern über ihre Erfahrungen zu sprechen. Als diese die angehefteten Briefe durchlesen, fällt auch ihnen auf, dass die Aufenthalte in den Kurheimen für die ganze Familie eine angespannte Zeit war. „Meine Güte, wir müssen ja mächtig Angst gehabt haben. In jedem Brief steht drin, dass du artig sein sollst und dass du aufessen sollst.“, so die Mutter von Birgit. Dem Vater verschlägt es beim Lesen der Briefe die Sprache. Schon damals waren die Eltern nicht sicher, ob sie den Postkarten und Briefen der Tanten trauen sollten. Birgits Mutter erinnert sich, dass das Mädchen ganz still aus den Aufenthalten zurückkam. Wenn sie damals gewusst hätte, wie es im Kurheim wirklich war, hätte sie ihre Tochter nicht noch mal hingeschickt.
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